
Bildungsgerechtigkeit- Eine Illusion?!
Wut steigt in mir auf, wenn ich dieses Buch lese. Wut über die Ungerechtigkeit, die der Protagonistin widerfährt. Wut, über ein System, dass nur zu gern "aussiebt" und "abhängt". Wut, über meine eigene Blindheit. Dieser Roman ist ein Augenöffner für alle, die in eben diese privilegierte Bildungsschicht geboren werden, deren Zugang der Protagonistin verwehrt bleiben soll. Denn Bildungsgerechtigkeit ist in Deutschland leider nach wie vor eine Illusion. Die Bedingungen unter denen unsere Kinder in ihr Leben starten könnten unterschiedlicher nicht sein. Dieses Buch ist für mich ein gesellschaftspolitisches "Must Have" für alle, die sich mit Bildungschancen und -gerechtigkeit auseinander setzten. In dieser Form ist mir die Thematik als Roman noch nicht begegnet und ich freue mich, dass die Jury dieses Buch auf die Longlist genommen hat. Übrigens ebenso wie über die Nominierung von "Ich an meiner Seite", dass ebenso ein sozialpolitisches Thema ausgewählt hat.
Wahrscheinlich ist dies nicht der diesjährige Gewinner des deutschen Buchpreises, aber ich empfehle die Lektüre ganz eindeutig! Dieses Buch zu lesen wühlt auf, lässt einen aus der persönlichen Komfortzone kriechen und gerade diejenigen, die als "Arbeiterkinder" ihre Bildung erkämpft haben und auch heute immer noch erkämpfen müssen werden von den Erzählungen der jungen Autorin sicherlich bewegt werden. Ein beeindruckendes Debüt: Streulicht von Deniz Ohde!
Industrieschnee markiert die Grenzen des Orts, eine feine Säure liegt in der Luft, und hinter der Werksbrücke rauschen die Fertigungshallen, wo der Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizt. Hier ist die Ich-Erzählerin aufgewachsen, hierher kommt sie zurück, als ihre Kindheitsfreunde heiraten. Und während sie die alten Wege geht, erinnert sie sich: an den Vater und den erblindeten Großvater, die kaum sprachen, die keine Veränderungen wollten und nichts wegwerfen konnten, bis nicht nur der Hausrat, sondern auch die verdrängten Erinnerungen hervorquollen. An die Mutter, deren Freiheitsdrang in der Enge einer westdeutschen Arbeiterwohnung erstickte, bis sie in einem kurzen Aufbegehren die Koffer packte und die Tochter beim trinkenden Vater ließ. An den frühen Schulabbruch und die Anstrengung, im zweiten Anlauf Versäumtes nachzuholen, an die Scham und die Angst – zuerst davor, nicht zu bestehen, dann davor, als Aufsteigerin auf ihren Platz zurückverwiesen zu werden.
Wahrhaftig und einfühlsam erkundet Deniz Ohde in ihrem Debütroman die feinen Unterschiede in unserer Gesellschaft. Satz für Satz spürt sie den Sollbruchstellen im Leben der Erzählerin nach, den Zuschreibungen und Erwartungen an sie als Arbeiterkind, der Kluft zwischen Bildungsversprechen und erfahrener Ungleichheit, der verinnerlichten Abwertung und dem Versuch, sich davon zu befreien.